Das gute Ende fällt dieses Mal aus

von Jan Brachmann / Frankfurter Allgemeine Zeitung

In Freiburg kommt die Oper „Zaïde/Adama“ von Wolfgang Amadeus Mozart und Chaya Czernowin zu starker Wirkung dank der Regie von Ludger Engels.

Aufwühlend ist die Begegnung mit Wolfgang Amadeus Mozarts Fragment „Zaïde“. Da schleudert ein Sklave – Gomatz heißt er, ist Christ und Gefangener eines Sultans – seine Anklage gegen die Mächtigen heraus, beschreibt seinen geschundenen Körper, die erschöpfte Seele und fleht um Schlaf als Erlösung: „O komm, du Tröster der Müden, naher Anverwandter des stillen Todes.“ Aber wie er das tut, sprechend nämlich zur harmonisch kühnen Begleitung des Orchesters, das ist ungeheuerlich: Diese Form des Melodrams – Mozart nennt sie „Melologo“ – gehört eigentlich der Tragödie zu, ist also Personen von Stand, Königen, Feldherren, Göttern gar vorbehalten. Dass ein Sklave redet wie Gott, kommt theatergeschichtlich einem Erdbeben gleich.

Inspiriert von französischen Vorbildern war Mozart hier, im Jahr 1779, mit seinem Salzburger Librettisten Johann Andreas Schachtner auf dem Weg, ein bürgerliches Trauerspiel für die Musik zu schaffen. Wäre es zur Vollendung und einer prominenten Uraufführung gekommen, dann hätte „Zaïde“ im deutschen Theaterleben eine ähnliche Erschütterung ausgelöst wie fünf Jahre später „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller. Man muss unwillkürlich daran denken, wenn man hört, mit welch idealistischem Feuer Christoph Waltle am Theater Freiburg diesen Melolog spricht: jung, voller Liebe, voller Empörung, bebend, aber entschieden – ganz wie Schillers Ferdinand.

Was „Zaïde“ ist, darüber wird bis heute gestritten. Gewiss keine Vorstufe zum heiteren Türken-Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“. Peter Sühring, ein Kenner von Mozarts Frühwerk, argumentierte erst Anfang dieses Jahres in der Zeitschrift „Musik & Ästhetik“ mit Vehemenz dafür, dieses Fragment von fünfzehn Musiknummern als fast vollständiges Ganzes zu betrachten und nicht an einen verlorengegangenen guten Ausgang mit Großmutslobpreis zu glauben. Das sei ein kurzes Stück, das grausam, mit der Hinrichtung des Liebespaares Zaïde und Gomatz durch Sultan Soliman, enden sollte, also der Versuch einer tragischen Operette.

Die Komponistin Chaya Czernowin ist ebenfalls vom bösen Ende der Geschichte, nicht nur jener Mozarts, überzeugt. Peter Ruzicka hatte ihr für die Salzburger Festspiele 2006 den Auftrag erteilt, das Fragment zu ergänzen. Sie tat es mit einem Kontrapunkt namens „Adama“, das von einer unmöglichen Liebe zwischen Mann und Frau, zwischen Israel und Palästina, erzählt und sich in Mozarts Lücken fügt. Auf Wunsch des Regisseurs Ludger Engels erweiterte sie dieses Stück um eine Chorpartie. Diese neue Version ist jetzt in Freiburg zu erleben.

Czernowin setzt Mozarts „Zaïde“ Geräusche, Klangflächen, in Phoneme zerlegte Sprache entgegen. Sie erschafft eine Atmosphäre erotisch gespannter Nähe zwischen Mann und Frau inmitten eines Umfeldes von Gewalt, die nicht nur durch den Krieg, sondern ebenso durch familiäre Unduldsamkeit, ein autoritäres Patriarchat beschrieben wird. Dass sie Mozarts Musik manchmal durch einen Orchestertinnitus oder den Bohrmaschineningrimm der Posaune überlagert, legt den Eindruck der Angst nahe, neben Mozart nicht bestehen zu können.

Solche Ergänzungen sind gewiss auch heikel. Luciano Berio etwa geht in „Rendering“, einer Komplettierung symphonischer Fragmente von Franz Schubert, den äußerst phantasievollen Weg einer Fortspinnung mit anderen Mitteln. Das muss man nicht so machen. Man kann auch den Bruch betonen. Doch der scharfe Kontrast, zu dem sich Czernowin entschlossen hat, steigert die Wirkung beider Musiken gerade dort nicht mehr, wo die Komponistin mit Überlagerungen spielt. Neutralisierung, wechselseitige Auslöschung ist die Folge.

Doch kommt ihr die Regie von Ludger Engels ganz ausgezeichnet zur Hilfe. In einer mutigen Raumanordnung, die theatralisch grandios wirkt, akustisch aber auch Probleme schafft, stehen sich zwei Orchester gegenüber. Jenes für Mozart spielt auf einem Podest im Parkett, das für Czernowin halb versenkt mitten auf der Bühne. Das Publikum sitzt auf der Hinterbühne, den Seitenbühnen oder im Rang.

Mit bewundernswerter Eleganz werden Requisiten wie Stühle, Schlagstöcke, Trennwände in die stets bewegte Personenregie einund ausgeführt. Der Bühnenund Kostümbildner Ric Schachtebeck setzt in den Materialien auf Strenge, Schlichtheit, Transparenz. Auch Engels stellt Aktualität erfreulicherweise jenseits des Plakativen her: Gräben, Mauern, Zäune, ein manipulierbarer Mob zeigen sich durch Abstraktion und formalisierte Bewegungsabläufe verfremdet. Der Naturalismus des Politischen hat hier nichts verloren. Die Paarung von Mann (Robin Adams) und Frau (Annette Schönmüller) ist gestisch explizit, aber still und zart choreographiert, zugleich zeitlich getrennt von der lautlichen Vereinigung mit hechelnden Phonemen. Laure Meloy singt eine blühend lyrische Zaïde, Alejandro Lárraga Schleske einen empfindsamen Allazim. Roberto Gionfreddo leiht dem Sultan greise Schärfe und Bosheit. Kraftvoll, sicher und beweglich gibt Jin Seok Lee den Osmin. Den Dirigenten Daniel Carter, Johannes Knapp und dem Chorleiter Bernhard Moncado gelingt es tatsächlich, alles zusammenzuhalten. Das ist bei diesem musikalisch wie szenisch fordernden Unternehmen – der Chor singt auswendig! – enorm.

Brachmann, J. (2017 June 19). Das gute Ende fällt dieses Mal aus. Frankfurter Allgemeine Zeitung.