Präzis inszenierte Zufälligkeit

von Weitere Vorstellungen / Der Bund

Jenseits von Mitleid und Larmoyanz: Konzert Theater Bern zeigt die Kammeroper «Alzheim» des Genfer Komponisten Xavier Dayer. Die Uraufführung in den Vidmarhallen vermag rundum zu überzeugen.

Der grosse offene Raum der Vidmarhalle zeigt eine Szene mit zufällig hingestellten Requisiten wie Stühlen, Tischen und Kühlschrank. Sie ist aber zugleich auch ein Tennisplatz mit Tribüne, Hochsitz und Markierwagen. Rechts auf der Spielfläche ist das klein besetzte Berner Symphonieorchester platziert, in der üblichen Anordnung, das heisst: Streicher vor Bläsern vor Perkussion.

Aber wie inszeniert man «Alzheim», ein Stück über diese unheimliche Krankheit? Und wie komponiert man Musik, die dem Thema gerecht wird? Konzert Theater Bern ist einen ungewohnten Weg gegangen.

Zuerst war der Berner Martin Woodtli, der in Thailand ein Heim für Demenzkranke aufgebaut hat. Der Journalist Jürgen Berger besuchte die Einrichtung und hat Gespräche mit Patienten und Angehörigen aufgezeichnet. Daraus hat er zusammen mit Regisseur Ludger Engels ein Opernlibretto geschrieben. Erst danach kam die Komposition.

Der 45-jährige Genfer Xavier Dayer, der an der Hochschule der Künste Bern unterrichtet, komponierte im Auftrag des Theaters zum vorhandenen Text eine Partitur für dreizehn Musiker, vier Sänger und fünf Schauspieler («Kleiner Bund» vom 1. 12.). Théâtre musical ist sein Werk überschrieben.

 

Wie wir, nur anders

Das Spiel ist in «Alzheim» mindestens ebenso wichtig wie die von vielen Pausen durchsetzte Musik. Gesungen wird wenig, aber wenn, dann auch von den Schauspielern. Geredet wird allseits viel, wirklich gesagt hingegen nur wenig – pflegen doch demente Menschen gleiche Sätze endlos zu wiederholen. In einer Art Parallelmontage agieren die neun Beteiligten meist gleichzeitig; es ist also immer etwas los.

Robin Adams etwa spielt pantomimisch Tennis, Jürg Wisbach fällt durch aggressive Ausbrüche auf, Evgenia Grekova versucht sich erfolglos Socken anzuziehen, und Heidi Maria Glössner schminkt sich immer wieder. Claude Eichenberger und Grazia Pergoletti sind Angehörige zwischen Aufopferung und Verzweiflung, und die Pflegerin Marielle Murphy verteilt Streicheleinheiten statt Medikamente.

Das grosse Plus der Vidmar-Bühne gegenüber dem Stadttheater, nämlich dass man von jedem Platz aus beste Sicht auf die Bühne hat, wird getrübt durch die nicht einfachen akustischen Verhältnisse. Die filigrane Instrumentierung und der fast durchgehend im Pianissimo gewobene Klangteppich werden vom aktionsgeladenen Bühnengeschehen mitunter regelrecht überspielt.

Wiewohl auf der Bühne wie im Orchester scheinbar nach dem Prinzip der Zufälligkeit agiert wird, kreiert Regisseur Ludger Engels einen ebenso emotionalen wie eindrücklich in sich geschlossenen Abend jenseits von Mitleid und Larmoyanz. Die Botschaft lautet: Demente sind Menschen wie wir, nur anders. Man singt zusammen Schweizer Volkslieder, und wenn eine Patientin der Violinistin die Noten stibitzt und zum Spass der Flügel herumgeschoben wird, gehört auch das Orchester zur Demenzstation im fernen Thailand.

Aber auch das Publikum wird Teil des Spiels zwischen Lachen und Weinen. Die neun Protagonisten stellen sich zu Beginn artig vor und treten auch danach in direkten Kontakt mit den Zuschauern. Insgesamt entsteht ein nachdenklich machender, aber eben auch durchaus unterhaltsamer Theaterabend.

 

Zwei Uraufführungen in Folge

Mit der Schweizer Erstaufführung «Anna Karenina» von Jenö Hubay vor einer Woche und nun «Alzheim» hat Konzert Theater Bern in kurzer Zeit gleich zwei neue, hochinteressante Opern produziert, beide übrigens dirigiert vom Kapellmeister Jochem Hochstenbach. Und der in Bern lebende Xavier Dayer hat an zwei aufeinanderfolgenden Tagen – was ein All-time-Rekord sein dürfte – zwei eigene Opern uraufgeführt: Am Samstag, am Tag nach der Berner «Alzheim»-Premiere, ist am Opernhaus Zürich sein Werk «Der Traum von Dir», ebenfalls eine Kammeroper, zur Uraufführung gekommen.

Vorstellungen, w. (2018, Januar 13). Präzis inszenierte Zufälligkeit. Der Bund. https://www.derbund.ch/kultur/klassik/praezis-inszenierte-zufaelligkeit/story/16961520