Schrillbuntes Spektakel der Geschlechter

von Armin Kaumanns / Aachener Zeitung, Aachener Nachrichten

Das Theater Aachen macht aus der Barockoper „La Calisto“ eine äußerst sehenswerte Loveparade im Götterhimmel.

AACHEN Der Weltraum rauscht. Immer wieder an diesem Abend pulsieren kosmische Klänge aus den Boxen. Denn nur vordergründig spielt sich das Geschehen in einem dieser Party-Tempel mit DJ-Pult hinter Glasfassade, Cocktailtheke, Diskokugel und Catwalk bis ins Parkett ab. Nebel wabern um Gestalten wie aus unbekannten Galaxien. „Schicksal“, „Natur“ und „Ewigkeit“ beraten über den Sternenhimmel. Lauten und Harfe psalmodieren, Zinken ertönen, die Gambe zirpt. Und schon tritt auch der Übeltäter auf: Jupiter, der Schwerenöter, begleitet von seinem Handlanger Merkur. Und beide posen sich erst mal die Unbilden so einer göttergleichen Existenz vom Leib.

Der Generalintendant übt Kritik

Erst vor wenigen Wochen hatte die Oper Bonn Cavallis „La Calisto“, eine frühbarocke Oper um die Nymphe Calisto, die vom Göttervater Jupiter in Frauenkleidern verführt wird, um von Göttergattin Juno geächtet und schließlich in den Sternenhimmel verklärt zu werden, in einer 90-minütigen Kurzfassung auf ihren Corona-Notfall-Spielplan gehievt. Nun geht das Theater Aachen mit Ludger Engels’ Inszenierung in die Vollen. Bleiben von der Bonner Umsetzung des mythologischen Stoffs ein ungemein lebendiges Musizieren und eine hyperaktive Drehbühne in Erinnerung, beeindruckt in Aachen ein regelrechter Kostümrausch, der ein schrillbuntes Spektakel der Geschlechter entfacht. Entzückte am Rhein die spezielle Gesangstechnik von eingekauften Spezialisten, setzt man in der Kaiserstadt fast ausschließlich aufs hauseigene Ensemble und etabliert das, was unter dem Label „Akzent Barock!“ vom Land gefördert wird. Stand in Bonn eher die Rarität im Fokus, gelingt in Aachen Welttheater mit Aktualitätsanspruch. Loveparade im Götterhimmel.

Die für den Kulturbetrieb fatalen Umstände im Verlauf der Pandemie machen auch vor der ersten Musiktheater-Premiere der Saison des Hauses von Michael Schmitz-Aufterbeck nicht Halt. So tritt zunächst der Generalintendant an diesem vorerst letzten Sonntag, an dem Kultur erlaubt ist, auf die Bühne. Bei aller Freude darüber, dass die wochenlange künstlerische Arbeit des Ensembles wenigstens ein Mal an die Öffentlichkeit dürfe, beklagt er vor dem maximal verkauften und zugleich fast leeren Haus voller Leidenschaft den Umgang der Politik mit der Kultur. „Schrecklich, dass wir in der Öffentlichkeit nicht vorkommen“, sagt er. Schrecklich auch, dass es so weit habe kommen können, dass als Erster und Einziger in der Bundestagsdebatte zum Corona-Lockdown ein Herr namens Gauland das Wort Kultur überhaupt in den Mund genommen habe.

Unter diesen Umständen scheint das, was in den folgenden fast drei Stunden auf der Bühne geschieht, kaum weniger bizarr. Denn das Produktionsteam um Regisseur Ludger Engels setzt mit so ziemlich allen Möglichkeiten auf die Inszenierungsidee, den Mythos um die Nymphe Calisto, der von unschuldiger Verliebtheit erzählt, die zwischen den Mühlrädern der Mächtigen zerschunden wird, in unsere Welt des Scheins, der Posen und des Seinwollens zu übersetzen. Mit einem Feuerwerk an witzig-aberwitzigen Klamotten (Raphael Jacobs) werden die Handelnden in die Voguing-Szene gebeamt, eine künstliche Trans-Welt, in der Geschlecht und Status mittels durchgestylter Gesten, Tänze und Kostüme die Fesseln der Normen abstreifen, sie transformieren und hinter sich lassen.

So erleben wir den Göttervater mit Turmfrisur, rattenscharfen Lederstiefeln, sonnengelbem Rüschenkleid. Bewundern das Gefolge der Jagdgöttin Diana auf Plateausohlen und in ausgefeilten Bewegungschoreografien. Ergötzen uns an dem schrillen Trupp um Pan, dessen eckige Handund Armverrenkungen eine Mischung aus Einheit und Macht evozieren. Calisto ist am Anfang blond und pink, am Ende, nach dem Missbrauch, ein Star und damit Protagonistin in diesem Vexierspiel des Lebens, das der Mythos erzählt und das der barocke Komponist gern in ein Happyend aufgelöst wüsste.

Engels und sein Team belassen diese Auflösung in der von ihnen geschaffenen Scheinwelt, in der die Wirklichkeit vielleicht umso deutlicher zutage tritt. Und weisen auch den Nebenschauplätzen der Handlung ihren Platz an. Die Liebe, der Kuss zwischen der prätentiösen Diana und dem lockig-soften Schäfer Endimione ist ein Bühnenwunder. Juno in Lockenmähne ein Taifun. Und die Bühne von Ric Schachtebeck ein echter Hingucker. Live-Videotechnik, Mikrofon, Glitzeroptik finden zusammen zu einem Gesamtkunstwerk von hohem Unterhaltungswert.

Herzzerreißende Töne

Bemerkenswert scheint ebenfalls, wie profiliert sich die Sänger-Schauspieler auf der Bühne trotz Abstandsregeln und teils erheblichen künstlerischen Anforderungen verhalten. Suzanne Jerosme ist eine ausgesprochen warmtimbrierte Calisto, die selbst in der Waagerechten noch zu höchsten, herzzerreißenden Tönen fähig ist. Fabio Lesuisse bringt das Kunststück fertig, sowohl im Bariton wie im Falsett zu betören, sensationell beherrscht und beglaubigt James Laing (als Gast) die Counter-Partie des Endimione. Neben Jelena Rakic als liebestoller Linfea, Fanny Lustaud als Diana, Hyunhan Hwang als Merkur und Anna Graf in der aufbrausenden Juno-Partie und anderen gefällt Takahiro Namiki als Pan.

Alle Sänger genießen ganz offenbar das Glück, von Christopher Bucknall durchs ungewohnte musikalische Terrain geführt zu werden. Der britische Dirigent inspiriert von einem der zwei Cembali aus das auf Parketthöhe heraufgefahrene Orchester, in dem sich Spezialisten wie Mitglieder des Sinfonieorchesters Aachen aufs Angenehme ergänzen. Der üppige Applaus des Premierenpublikums muss nun bis zum Dezember reichen.