Gender Als Performance

von Pia Rabea Vornholt / Theater Aachen

Ein Gespräch mit dem Regisseur Ludger Engels über die Produktion »La Calisto«

Die Handlung von »La Calisto« basiert auf antiken Mythen und ist dennoch in ihrer Aussage sehr modern. Um was geht es für dich?

Für mich stehen vor allem zwei Aspekte im Vordergrund: Zum einen geht es darum, wie jemand aufgrund von Gefühlen in Abhängigkeit gerät und sich dadurch selbst verliert. Zum anderen geht es um Menschen in hohen Positionen, in diesem Stück die Götter, welche die Unsicherheit dieser Menschen ausnutzen, um sie manipulieren zu können. Betrug, Rollenwechsel und Machtmissbrauch werden als Mittel herangezogen, um die eigene Position zu sichern, ans Ziel seiner Wünsche zu kommen oder einfach »in« oder »en vogue« zu sein – alles Dinge, die unsere heutige Gesellschaft prägen.

Deine Inszenierung versetzt in einen Club, der an die »Ballroom Culture« der 1980er Jahre in New York erinnert. Im Zentrum dieser Szene stand das Voguing, ein Tanz, der die Posen aus der Modewelt pantomimisch nachstellt. Wie kam diese Assoziation mit der Oper zustande?

»La Calisto« ist geprägt von dem Spiel mit Geschlechterrollen, das Ausleben und die Entdeckung der eigenen Sexualitat und Körperlichkeit. In dieser Auseinandersetzung sehe ich eine spannende Parallele zur Voguing-Szene der 80er Jahre. Menschen, die aufgrund ihrer Sexualitat gesellschaftlich ausgegrenzt wurden wie Homo- oder Transsexuelle schufen sich innerhalb dieser »Ballrooms« einen Raum, wo sie ihre wahre Identität leben konnten. Ein weiterer Teil waren Wettbewerbe, in denen einzelne Teams aus Tänzern gegeneinander antraten. Diese Teams gestalteten sich als sogenannte »Houses«, die wie Ersatzfamilien fungierten. Auch in »La Calisto« gibt es diese Gruppierungen, wie Diana mit ihrem Gefolge oder Pane mit Silvano und Satirino – interessante Parallelen, die mich inspiriert haben.

Beim Voguing wird nicht nur die extravagante Kleidung, sondern das Thema Gender, also das Geschlecht selbst, zur Performance. Auch das führt uns direkt zu »La Calisto«, wo Travestie eine wichtige Rolle spielt.

Jupiter verkleidet sich als Diana, um Calisto zu verführen. Spannend am Barockzeitalter überhaupt ist dieses Spiel mit den Geschlechterrollen, das auch in der Mode angelegt war. Durch opulente, glitzernde Stoffe, Schminke und gepuderte Perücken wurden die Gemeinsamkeiten der Geschlechter betont, die teils kaum zu unterscheiden waren. Die Lust an der Pittoreske, am Spiel mit der Verwandlung und Illusion wurde auf Maskenballen zelebriert. Auch die Clubkultur der 2000er Jahre ist von dieser Möglichkeit geprägt, auszuleben, was man im Alltag nicht sein kann. Veranstaltungen wie die Loveparade lassen Raum, sich selbst zu zelebrieren, ohne einem Ideal entsprechen zu müssen.

Ist der innere Antrieb der Figuren in »La Calisto« also vielmehr ein Ich-Selbst-Sein- Wollen als der Wunsch, nach außen etwas zu behaupten? Jupiters Berater Mercurio prahlt: »Wer lugt, gewinnt« …

Dieser Satz definiert für mich vielmehr die normative Gesellschaft, die ein System vorgibt, dem man sich fügen soll. Die Lüge ist die Strategie skrupelloser Machthaber, die den Betrug zum Erfolgsrezept erklärt haben. Eine Strategie, die auch Jupiter anwendet und welcher Calisto ausgeliefert ist, die von ihrer ehrlichen Perspektive ausgehend diese Lüge nicht erkennen kann.

Calisto lehnt Jupiter als skrupellosen Chauvinisten von vornerein ab, und wird vielleicht gerade aufgrund seines verletzten Egos von ihm verführt. Wie siehst du Calistos Entwicklung?

Calistos Geschichte ist eine ziemlich tragische. Ich sehe in ihr eine Frau, die ihre erotischen Gefuhle zu einer anderen Frau, ihrer Chefin, realisiert und diese gegenüber einem Mann verteidigt, der auch noch der höchste Gott Jupiter ist. Als sie beginnt, über ihre ehrlichen Gefühle zu reden, wird sie von der wahren Diana wiederum dafür verachtet und schließlich von der eifersüchtigen Göttergattin Juno hart bestraft. Am Ende gewinnt sie fur sich die Erkenntnis, dass es nichts bringt zu ihren eigenen Gefühlen zu stehen, etwas sehr Bitteres.

Am Ende der Oper steht sie ihrem Verführer sogar scheinbar dankbar gegenüber. Ein Sinneswandel?

Am Ende wird sie im Grunde genau zu dem gemacht, was sie entschieden ablehnte: zur kleinen Naiven, die einem System und Modediktat folgt, um akzeptiert zu werden. In dem Moment gibt sie sich selbst auf. Ihr Vertrauen wurde so gebrochen, dass sie im Selbstschutz nur noch das erfüllt, was man von ihr erwartet: als Modeikone neben Jupiter zu glänzen und zu einem Lebensmodell einer Gesellschaft zurückzukehren, in der neben der Beziehung zwischen Mann und Frau kein weiteres akzeptiert wird.

Diana gerät ebenfalls in den Konflikt, ihre wahren Gefühle nicht ausleben zu konnen. Den äußeren Erwartungen zum Trotz findet sie in deiner Inszenierung jedoch ihren eigenen Weg.

Mit Diana und Endimione haben wir zwei Figuren, die sich letztendlich völlig aus dem bestehenden System befreien. Spannend finde ich hier den Gedanken, dass sie ihre Liebe füreinander weniger auf erotische Gefühlestutzen, sondern auf ihre seelische Verbindung. Die philosophische Idee des Zusammenseins überwiegt die Körperlichkeit. Eine Utopie, die innerhalb einer alternativen Szene noch eine Alternative eröffnet.

Ein Aufruf, jedes System zu hinterfragen?

Ich würde sagen, jedes System besitzt seine Tücken. Selbst in einer Szene, die eigentlich Befreiung bedeutet, können Mechanismen verborgen sein, die einengen und einen zum Opfer werden lassen. Am Ende der Oper bestätigt sich nur, dass Jupiter der Boss ist und letztendlich alle Faden in der Hand hält. Seine Ordnung wird wiederhergestellt, wahrend Calisto als Sternchen neben ihm glanzt und alle anderen, inklusive seiner Frau, als vermeintliche, große Familie nach wie vor das System bedienen. Ich glaube, viele Menschen erfüllen nur die gesellschaftlichen Erwartungen und leben ihre Persönlichkeit nicht voll aus. Letztendlich muss man sich immer wieder fragen, in welchem System lebe ich und welche Position nehme ich darin ein? Bediene ich unbewusst mit meinen Handlungen nur ein System oder eine Mode oder gibt es eine Alternative? Es geht darum, Freiräume zu schaffen, mit der Option, aussteigen zu können – begleitet von dem großen Fragezeichen, ob das vielleicht die bessere Wahl ist.

Vornholt, P R. (n.d.) GENDER ALS PERFORMANCE. theateraachen.de. https://theateraachen.de/de_DE/la-calisto-ein-interview-mit-dem-regisseur-ludger-engels